Ungelenk mit Malerband geklebt steht «Charlatan – Restodisco. Est. 2022» auf dem zweiflügeligen Fenster geschrieben. Durch dieses betritt man kürzlich eröffnete Lokal an der Lagerstrasse und findet sich in einem bizarren Zwischenraum wieder. Auf die Wände projiziert wurden Palmen und Sandstrand, Sorte Windows 98, und neonviolette Billig-Lichterketten, die sich um einen Disney-Springbrunnen schlängeln. Im «Charlatan» weiss man nie, was einem als Nächstes blüht.
So eröffnet sich hinter dem schweren Vorhang ein riesiger Raum mit lachsfarbenen Wänden, dunkel gesprenkeltem Steinboden und Ledersofas. Restaurant, Bar und Disco auf ein und derselben Fläche. Am Wochenende lange sitzen bleiben wird man hier nicht. Denn abends wird das Lokal zur Disco-Location, wo getanzt wird. Passend dazu die menschengrosse Discokugel mitten im riesigen Raum. Ein wunderbar schräger Laden.
Das «Charlatan», selbsternannte Restodisco, ist das neue Szenelokal im Zürcher Kreis 4, und tatsächlich noch ein Geheimtipp. Was eigentlich sonderbar ist, denn das «Charlatan» hat geschafft, was in der hyperkonzeptualisierten Restaurant-Landschaft Zürichs schon lange niemand mehr geschafft hat: Mit seiner Eigenwilligkeit hat es sich ein Alleinstellungsmerkmal verschafft.
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Tatsächlich sei die gesamte Einrichtung wild zusammengestellt. Der frischgebackene Restaurantbesitzer Patrick Francis Longjean Calame, in Zürich besser bekannt als Pitsch Calame, bestätigt den persönlichen Eindruck: Das Inventar stammt aus Kellern von anderen Lokalen, deren Betreiberinnen und Betreiber er kennt, und die Klappstühle sind aus dem Hallenstadion. Ein heilloses Durcheinander aus verschiedenen Jahrzehnten: Puff-Chic trifft auf Corbusier-Stahlrohr, Plastik-Tischtücher auf Zalto-Gläser.
Ebenso improvisiert wirkt der riesige Innenhof mit seinen tropischen Pflanzen, die nachts beleuchtet werden und maximales Kitsch-Feeling verbreiten. Kein Tisch steht parallel zum anderen, kaum zwei Stühle passen zueinander. Gewiss, manchmal sind Ordnung und Konzept die bessere Lösung, aber nicht im «Charlatan». Das Lokal ist perfekt auf das Improvisationstheater des echten Lebens ausgerichtet. Man könnte sich kaum wo wohler fühlen.
Dabei sind längst nicht alle so geübt in den Künsten der Improvisation wie Pitsch, Gastronom und Exponent des Zürcher Nachtlebens. Er ist der Chef, Conférencier, Patron, Anekdotenerzähler und Scharlatan des Hauses. An seiner Seite stehen Elena Nierlich und Sonja Huwiler von der Olé-Olé-Bar. Und mit Kevin Ungermann, Küchenchef, und Tim Hauser, Restaurant-Geschäftsführer, vom «Langstrassen Pop Up» sind noch zwei weitere bekannte Gesichter aus der Zürcher Partyszene mit dabei.
Wer nun denkt, man treffe im Lokal nur Szenis an, irrt. Man sieht Politikerinnen, Schickeria, schräge Vögel, Geschäftsleute und ganz stinknormale Stadtzürcher. Vor nicht allzu langer Zeit war die Lokalität eine Altersresidenz. Darauf deuten heute noch die erhöhten Pflanzenbeete aus Waschbeton, die Hausfassaden aus Waschbeton, die automatisierten Schiebefenster und die farbigen Markisen hin. Selbst für den Charme des Alten bleibt hier Platz.
Das «Charlatan» wurde im Zuge der «Zwischennutzung Lagerhaus» im letzten Juni eröffnet, wo in den Monaten zuvor das Pop-up «Spät» zu finden war. So wird es sich auch in der Restodisco nach vier Jahren wieder ausgetanzt haben.
Bodenständig gibt sich das «Charlatan» auch mit seiner Karte: Mit je vier Vor- und Hauptspeisen ist sie klein, mit Menus wie Kopfsalat, Tatar vom Weiderind, Knödel mit Steinpilzen oder Rindshohrücken wird dennoch jede Vorliebe und Lust gestillt. Es wird angeboten, was schmeckt und Spass macht. Gute Laune lässt man sich hier durch kein Dogma verderben.
Dass Kevin Ungermann sowieso nicht zu dieser Sparte Küchenchef gezählt werden kann, hat der Koch schon als Sous-Chef in der Marktküche oder letztens mit dem «Langstrassen Pop Up» in der Olé-Olé-Bar unter Beweis gestellt: Zusammen mit Tim Hauser hat er dort einen Take-away auf Zeit betrieben, in dem sie raffinierte Summer-Rolls mit ausgeklügelten Zutaten angeboten haben.
Ellenlang ist dafür die Weinkarte, die einen lockeren Weingenuss verspricht, aber eben auch Kennerinnen und Kennern ein leises, leuchtendes Halleluja entlockt: Sie ist gut dotiert mit bewährten Namen, doch man findet darauf auch Geheimtipps und unbekannte Newcomer aus den namhaftesten Anbauländern. Dass die Tropfen dazu noch preislich fair kalkuliert sind, zeigt, dass Scharlatane zwar versprechen, was wir uns nicht einmal zu wünschen wagen, dafür aber nicht immer nur vortäuschen und betrügen müssten.
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