Modelleisenbahnen: Der "Mythos Märklin" feiert seinen 150. Geburtstag - WELT

2022-05-06 17:52:55 By : Ms. Sally Kang

S pielzeug - dieses Wort sollte man an diesem Ort lieber vermeiden. "Wo sind denn die Spielsachen?" Selbst die Wachleute des Arp-Museums zucken bei der Frage zusammen. "Die Ausstellungsobjekte sind echte Raritäten", raunt einer, "über 100 Jahre alt und teilweise mit sechsstelligen Summen versichert." Hinter seinen breiten Schultern zischen kleine Modellbahnzüge durch künstlich-grüne Schwarzwaldberge, eine schwäbische Kleinstadt und die finsteren Straßenschluchten von Hamburg.

Die drei "Märklin-Landschaften" im großen Wartesaal des Bahnhofs sind eindeutig neueren Datums. "Ha-Null hatte ich auch", sinniert ein älterer Herr, der mit seiner Frau Hand in Hand vor "Hamburg" steht, leise. Der Herr vor "Hamburg" lächelt entrückt, fast kindlich, und beugt sich über einen D-Zug, der durch die Speicherstadt rauscht. Seine Frau wiederum schaut ihn an und sieht dann ähnlich zufrieden aus. Sehr ähnlich.

"Mythos Märklin" heißt die Ausstellung, die das Arp-Museum bei Remagen zeigt. Titel und Ort deuten es an: Hier geht es um mehr als Spielzeug, um mehr als kleine Eisenbahnen, die bei vielen Menschen, vor allem bei Männern, so große Gefühle auslösen. Es geht um deutsche Geschichte.

1856, die Märzrevolution ist erst ein paar Jahre her und die industrielle Revolution in vollem Gange, wird der Bahnhof Rolandseck eröffnet. Eine zierliche, klassizistische, symmetrische Villa, erbaut als Reiseziel wohlhabender Industrieller aus Köln. Zur gleichen Zeit tüftelt in der fernen Schwäbischen Alb ein Klempner an Blechspielzeug, das er wohlhabenden Familien zu verkaufen gedenkt. Bis sich die Wege des Klempners Märklin und der Bahn kreuzen, wird jedoch noch eine Weile vergehen.

Am Rolandseck lebt die kölnische Hautevolee ihr Bedürfnis nach Weite, Landschaft und großem Gefühl aus. Statt in vier Stunden rumpelnder Kutschfahrt ist der sagenumwobene Fels unter Ritter Rolands Burg jetzt in einer Stunde per Zug zu erreichen. Warum weiterfahren? Die Beletage des Bahnhofs hat ein Restaurant, einen Festsaal und eine Terrasse mit bester Aussicht auf den Rhein und auf das einfache Volk, das unten, von der Fähre kommend, Koffer aufs Gleis wuchtet oder in den Wartesälen sitzt, die, der Gesellschaft entsprechend, in vier Klassen eingeteilt sind.

Bahnhöfe als zugige Orte des schnellen Weiterreisens sind eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. In den Anfängen der Bahn sind sie Kathedralen des neuen Glaubens an Technik, Fortschritt, Bildung - und Geld. Stuck und klimpernde Kristalllüster sind Zeugen, wie Queen Victoria am Rolandseck Tee nimmt, wie ihr Enkel, Kaiser Wilhelm II., sich mit Reichskanzler Otto von Bismarck trifft, wie Heinrich Heine und Ludwig Uhland kluge Gespräche führen, ebenso die Brüder Grimm und Friedrich Nietzsche. Es musizieren Johannes Brahms, Clara Schumann und Franz Liszt. Das alles vor dem Hintergrund der romantischen Ruine: Hier soll einst Ritter Roland gehaust haben, liebeskrank angesichts seiner Hildegunde, die gegenüber ins Kloster gegangen war, weil sie ihn wiederum für tot hielt. So weit die Sage.

Nun also wird hier ein neuer Mythos beschworen. Modellbahnen. Die Welt im Kleinen. H 0, gesprochen "Halb Null", bedeutet Spurweite 16,5 Millimeter, Umrechnungsfaktor aus der einen Welt in die andere: 1:87. Seit 1935 Märklin die "erste elektrische Tischeisenbahn" einführte, wurden Abertausende Kilometer H-0-Gleis in deutschen Hobbykellern verlegt. Natürlich gibt es andere Hersteller. Doch Märklin beherrscht heute zwei Drittel des weltweiten Modellbahnmarktes.

Im Wartesaal Klasse IV ist es ruhig. Ein Propellerflugzeug steht in einer Vitrine, ein Dampfschiff, ein Autobahnkreuz. Ein Karussell, es hat bunte Kugeln und Lämpchen und ein Rädchen zum Aufziehen. Die "Kinder" auf den Pferden tragen Anzüge, damenhafte Kostüme oder Matrosenhütchen. "Im Sortiment ab 1901", heißt es dazu im Katalog.

Hier beginnt die Geschichte von Märklin. Ganz ohne Eisenbahnen, dafür mit Frauen. Es ging um Puppenherde. In seiner Werkstatt in Göppingen ertüftelt 1859 der Klempner Theodor Friedrich Wilhelm Märklin ein Weihnachtsgeschenk für Mädchen: einen "echten" Puppenherd. Auf einer Gasflamme lassen sich winzige Gerichte zubereiten. Märklins zweite Frau Caroline erkennt den Wert der Idee, doch an wen verkaufen? Die Schwäbische Alb ist das Armenhaus Deutschlands, die Nachbarn Bauern oder Fabrikarbeiter. Also macht sie sich als "erste Handelsreisende ihrer Zeit", wie die Firmenchronik vermerkt, auf den Weg nach Süddeutschland und die Schweiz, um Märklins Puppenherde zu vermarkten.

Sogar Kochbücher erscheinen: "Haustöchterleins Puppenküche". 1859 wird die Firma Märklin gegründet. Als Theodor 1866 nach einem Sturz in den Keller stirbt, führt Caroline das Geschäft fast 30 Jahre allein weiter, bis ihre drei Söhne erwachsen sind. Erst mit ihnen beginnt das Zeitalter der Spielzeugmaschinen, mit denen Erwachsene Kindern und sich selbst die Welt erklären.

Welche Kinderhand hat die Pferde des Blechkarussells gestreichelt? Und in welche Fantasieländer flogen die Modellflugzeuge? Davon weiß man heute nur wenig. Die Sammler wollten lieber anonym bleiben, sagen die Ausstellungsmacher. Und die meisten Besucher interessieren sich auch nicht dafür. Sie scharen sich um das dicke Kriegsschiff in der Mitte des Raums. Die "Brunsvik", erbaut 1900 in nur drei Exemplaren, ist 1,20 Meter lang, der Bauch grau-schwarz lackiert, martialische Kanonen ragen vom Oberdeck. Ein solches Kriegsschiff hat Kaiser Wilhelm II. dem chinesischen Kaiser bei seinem Besuch in China geschenkt, heißt es im Katalog. Niemand wundert sich: Wilhelm II. war nie in China. Selbst wenn, wäre das Schiff als Geschenk eine seltsame Geste gewesen - Deutschland hatte sich gerade mit anderen Alliierten in China durch Niederschlagung des Boxeraufstands koloniale Macht gesichert.

Neben der "Brunsvik" steht eine kleine Schießanlage. "Guck mal, Zündplättchen!", sagt eine ältere Dame, ganz in die Technik vertieft, zu ihrer Bekannten. "Ja, das funktioniert bestimmt!", antwortet diese. Es klingt zufrieden. Was wirklich fasziniert an den märklinschen Spielwaren, ist, neben der liebevollen Gestaltung, dass sie funktionsfähig sind. Um 1900 sind längst auch die Kinderzimmer zu Kathedralen der Technik geworden.

Größte Heiligtümer dieser Welt sind sicher die Dampfmaschinen, denen das Arp-Museum einen eigenen Saal widmet. Zwar fehlen hier die Herzschläge der Technik, das Klacken und das Puffen. Zu wertvoll sind die Maschinen, als dass man sie tun ließe, wofür sie vor 100 Jahren konstruiert wurden. Trotzdem erzählen sie mit ihren Schwungrädern, Kesseln und Übersetzungen vom Wunsch, die Welt zu bewegen, sie schneller und besser zu machen. Prunkstück ist die "Dampfmaschine mit Compound-Anordnung", die, so will es der Katalog, "schönste, die Märklin je gemacht hat". Teuer war sie auch: 340 Goldmark. Zum Vergleich: Ein Arbeiter verdiente um die 50 Pfennig pro Stunde.

Seit Carl und Eugen Märklin 1891 den Vertrieb für eine Modellbahnfirma übernommen hatten, ging es mit Märklin bergauf. Und nach Übersee. Allein nach New York lieferten die Brüder im Jahr 1910 Spielwaren im Wert von 90 000 Goldmark. Schon 1900 hatten sie eine Fabrik mit 6000 Quadratmetern für 900 Arbeiter errichten lassen. Das Türmchen hieß, gänzlich unbescheiden, "Olymp". Die Schwaben wollten die größten Spielwarenhersteller der Welt werden.

Den Weg dahin haben sie 1891 auf der Leipziger Spielwarenmesse eingeschlagen, als sie die erste Spieleisenbahn mit genormten Gleisen vorstellten. Diese hat - neben dem Antrieb - eine Eigenschaft, die in der Neuen Welt immer wichtiger wird: eine Norm. Schienen und Züge lassen sich individuell kombinieren. Und natürlich gibt es die passenden Bahnhöfe dazu: Den "Zahnradbahnhof" etwa, Spur 0, von 1909, ein Unikat von unschätzbarem Sammlerwert. Er erfreut durch Details wie den Fahrkartenschalter mit der französischen Aufschrift "Billets", zwei Gleisebenen und ein Bahnhofsklo. Häufiger gefertigt wurden für ausländische Kunden Modelle wie der "Französische Bahnhof Spur 0".

Allen gemeinsam ist die prunkvolle Ausstattung - ganz wie am Rolandseck. Mit der Einführung des Druckgussverfahrens lassen sich die realen Vorbilder der Loks und Züge noch viel genauer nachbilden als mit Blech - und in viel größerer Stückzahl herstellen.

An dem Prinzip hat sich heute nicht viel geändert. Die alte Fabrik hat innen etwas von Krankenhaus mit ihren endlosen, gewienerten Fluren und den einzelnen Abteilungen, wo die metallenen Leiber in Kisten und Bädern liegen wie Patienten. Sie werden galvanisiert, phosphatiert, mit Lack und Öl behandelt, überwacht von blinkenden Maschinen und besorgten Frauen, die alle Loks und Waggons prüfen, polieren und wieder vorsichtig in die Kästen betten. Neuerdings bekommen die altmodischen Loks moderne Platinen, die authentische Geräusche imitieren. Lokpfeifen und Bremsenquietschen.

Ihre große Zeit hatten die Modellbahnen in den 60er- und 70er-Jahren, als auch die Welt immer kleiner wurde: Das Land geteilt, die Autos sparsam, man lebt im Reihenhaus und entdeckt das Hobby als Flucht aus der Realität. Märklins Mini-Club-Züge im Maßstab 1:220 von 1972 sind so klein, dass sie in eine Schreibtischschublade passen. Gleichzeitig bieten Hersteller wie Faller immer mehr "Beiwerk" an; Häuser, Gebirge, Autos und Menschen im rechten Maß. Und alles zum Festkleben.

Märklin-Sprecher Roland Gaugele sagt, Dampfloks seien heute nach wie vor am gefragtesten, "gefolgt von den ICEs". Gaugele arbeitet seit 30 Jahren im Konzern in Göppingen. Natürlich sammelt er selbst Spur-I und ist natürlich im Modellbahnverein, der sich zurzeit sehr um Nachwuchs sorgt. Demnächst wollen sie ausprobieren, ob nicht Zwölfjährige schon eigene Modellbahnlandschaften bauen können. Früher haben das die Väter gemacht. Die typische Biografie einer westdeutschen Familie ist ohne den Märklin-Konflikt undenkbar: dass der Vater dem Sohn zwar die Bahn baut, in Wirklichkeit aber selbst damit spielt. Gaugele führt seine Gäste gern durch die "Erlebniswelt", wie Märklin seine ständige Verkaufsausstellung in Göppingen nennt. Neben vielen historischen Spielwaren wachsen auch grüne Pappmachéberge, sie erheben sich noch imposanter als am Rolandseck.

Wer sich eine Weile hier aufhält, lernt etwas über den besonderen Menschenschlag, den die Modellbahn hervorgebracht hat. So sind zunächst Begriffe wie "echt" neu zu definieren. Schließlich sind die Märklin-Loks genauso echt wie ihre Vorbilder, nur eben im Maßstab 1:87. Oder? Dann sind da jene Figuren, die die Modellwelten bevölkern. "Personen". Auch diese gibt es natürlich in 1:87 und sogar 1:220. Was sie tun, ist jedoch keineswegs der Fantasie der Weltenerbauer entsprungen. Es steht auf Hunderten Packungen. Neben Familien, Glasern und Jägern gibt es "Lesende", "Betende", eine "Beerdigung" und sogar Sex-Szenen (mit jugendfreundlichem Sichtschutz).

Unfälle, Verbrechen und Krieg finden in der H-0-Welt nicht statt. Die Modellbahnerwelt ist eine heile Welt, sie hat sogar eigene historische Epochen, die sich nach technischen Neuerungen richten. Mit dem ICE sei Epoche V angebrochen, erläutert Roland Gaugele. Die Nachkriegszeit dürfte etwa Epoche IV sein. Der Zweite Weltkrieg? Es wurde auch bei Märklin "Kriegswichtiges" hergestellt, Zwangsarbeiter gab es auch, nach 1945 musste die gesamte Spielzeugproduktion an die amerikanischen Streitkräfte abgegeben werden. Die Geschichte von Märklin ist zwar so typisch deutsch wie ihr Produkt, aber wissenschaftlich nicht erforscht. 2006 wurde Märklin an einen britischen Investor verkauft. Der Name Märklin blieb, doch für die Erben hat er offenbar den Zauber verloren. Sie sind an der Ausstellung nicht beteiligt.

Für den "Mythos Märklin" muss das nicht unbedingt etwas bedeuten. Die beständigsten Käufer, sagt Gaugele, seien Sammler, die für noch die winzigsten Wägelchen fantastische Preise zahlen. Und Mythen, das zeigt nicht zuletzt der Bahnhof Rolandseck, lösen sich ohnehin irgendwann von der Realität. Nach 1945 sollte der Bahnhof abgerissen werden. Künstler versuchten, die Räume zu füllen. So kam letztlich auch Hans Arp zu der Ehre, dass man ihm posthum jenes Museum widmete, das nun über dem Bahnhof im Berg thront. Nur einmal die Stunde hält unten die Bahn, alle anderen Züge rauschen mit furchterregendem Grollen ganz tief unten durch einen Tunnel ohne Halt.

Dennoch ist der Bahnhof ein Ort der Verbindungen geblieben. Zum Verweilen, mit weitem Blick. Ob Ritter Roland überhaupt je hier war, weiß keiner. Doch noch immer reden sie von ihm wie von einem Nachbarn - vertraut. Ebenso gehen die Besucher mit den rauschenden Märklin-Zügen um. Die nachdrücklichsten Ermahnungen hätten sie bei Herren im gesetzten Alter anbringen müssen, sagt der Wachmann. Modelleisenbahnen sind eben doch Spielzeug. 90 Prozent aller Kunden sind übrigens Männer.

Die WELT als ePaper: Die vollständige Ausgabe steht Ihnen bereits am Vorabend zur Verfügung – so sind Sie immer hochaktuell informiert. Weitere Informationen: http://epaper.welt.de

Der Kurz-Link dieses Artikels lautet: https://www.welt.de/104083023